22. Juni 2020

Alte Wun­den heilen

Von tomate
Lese­dau­er 3 Minu­ten

1996. Ich lebe auf dem Land und will seit Jah­ren sagen, dass ich Män­ner toll fin­de. In die­sem Jahr sage ich es. Ich bin 15 und allein. Klar, man hat nix gegen Schwu­le – es ist halt nur so ein Schimpf­wort auf dem Schul­hof. „Schwu­le sind etwas Schlech­tes“ ist das, was bei mir ankommt. Da ich schwul bin, bin ich also etwas Schlechtes.

In der Schu­le beka­men wir nur die Infor­ma­ti­on, dass es Homo­se­xua­li­tät gab, dass inzwi­schen kei­ner mehr dafür ins Gefäng­nis ging und dass man Schwu­le nicht dis­kri­mi­nier­te. Über Les­ben, Trans* und Inter-Men­schen erfuh­ren wir damals nichts. So rich­tig hat­te ich noch nicht ver­stan­den, was „schwul“, was „que­er“ bedeu­tet. LGBT­QI* sag­te mir noch nichts. Die Regen­bo­gen­fah­nen kann­te ich nur als „Frie­dens­fah­ne“.

Zu mei­nem Glück fand ich über das Inter­net Zugang zu News­groups und Foren und pro­bier­te dort – neben jeder Men­ge Unfug –, etwas über mich her­aus­zu­fin­den. Mit Erwach­se­nen konn­te und moch­te ich nicht dar­über reden. In der Biblio­thek gab es zwar ent­spre­chen­de Bücher, aber ich woll­te nicht, dass jemand erfuhr, dass ich sol­che Bücher aus­lieh. Und die Biblio­the­ka­rin bei uns war eben­so geschwät­zig wie mein Arzt. Auf dem Land gab es für mich außer­halb mei­nes Zim­mers kei­ne Pri­vat­sphä­re. Es gab nur Ableh­nung, Häme, „das ist eine Pha­se“ und Freun­de, die sich mit mir plötz­lich nicht mehr tref­fen wollten.

Schwu­le waren dann okay, wenn sie nicht in der Nach­bar­schaft wohn­ten und man nicht direkt mit ihnen zu tun hat­te. Immer mit aus­rei­chen­der Distanz und „Sicher­heits­ab­stand“. Es war ätzend, denn ich woll­te nicht auf Distanz gehal­ten wer­den, nur weil ich anders war. Manch­mal sah ich im Fern­se­hen die Berich­te über den CSD in Frank­furt. Frank­furt, eine Stun­de ent­fernt, aber für mich uner­reich­bar. Ich wäre nie auf die Idee gekom­men, dass der auch für mich war, denn dort waren die „ande­ren Schwu­len“. Die immer glei­chen Fern­seh­bil­der der schril­len, frei­zü­gi­gen und tun­ti­gen Schwu­len und die Reak­tio­nen und Kom­men­ta­re mei­nes Umfelds ver­un­si­cher­ten mich. Was dort zu sehen war, was dazu gesagt wur­de, war ganz anders, als ich mich wahr­nahm. „Und außer­dem sind das alles Pädo­phi­le“, hör­te ich einmal.

Wenn ich kurz Mut fass­te, mir über­leg­te, ob das doch auch eine Ver­an­stal­tung für Men­schen wie mich war – was wäre, wenn mich dort jemand gese­hen hät­te?! Nein, das war kei­ne Option.

Nach mei­ner HIV-Infek­ti­on, Mit­te der 2010er Jah­re, brach mei­ne Welt zusam­men. Ich wuss­te nicht mehr, wo oben oder unten war und die nächs­ten zwei Jah­re war ich mir selbst noch frem­der als jemals zuvor. Wer war ich über­haupt? Und das obwohl ich um die The­ra­pien, Nicht­über­trag­bar­keit und vie­les wuss­te. Erst der Rück­halt durch mei­ne jet­zi­gen Freund*innen half mir, wie­der den Boden unter den Füßen zu spü­ren. So einen Rück­halt hät­te ich 1996 eben­falls gebraucht.

Inzwi­schen hat sich vie­les geän­dert. Ich habe mich ver­än­dert. 2018 war ich auf dem Ber­li­ner CSD, wie vor­her schon auf vie­len ande­ren CSDs. Bis­her war ich nur für das abs­trak­te Poli­ti­sche und natür­lich für die Soli­da­ri­tät mit ande­ren da. Aber 2018 lief ich bei der Demo mit – im Leder­harness und Jock. Ich war gera­de in einer Pha­se, in der ich mich sexu­ell neu fand, aus­pro­bier­te, Feti­sche und Kinks erkun­de­te und mich selbst lie­ben lern­te. Es war eine gro­ße, gei­le Par­ty, ich traf eine Men­ge alte Bekann­te sowie Freund*innen und lern­te neue Men­schen ken­nen. Den Rest des Abends lies ich mich über den CSD trei­ben. Und plötz­lich ver­stand ich es. Plötz­lich wuss­te ich, wofür der CSD da war – da sein soll, da sein MUSS! Der CSD ist die ulti­ma­ti­ve Demons­tra­ti­on unse­rer selbst. Wir sind da! Wir sind ver­schie­den! Wir haben ein paar Kilo­me­ter Stadt für uns und unter­lie­gen aus­nahms­wei­se, wenn auch nur ganz kurz ein­mal nicht den Regeln die­ser cis-hete­ro­nor­ma­ti­ven Mehr­heits­ge­sell­schaft. Hier sind wir, die Schwu­len, die Bise­xu­el­len, die Les­ben, cis, trans*- und inter­se­xu­el­le Men­schen, aro­man­tisch, ase­xu­ell oder hyper­se­xu­ell, mit und ohne Feti­sche, HIV posi­tiv oder nicht. Hier sind alle Buch­sta­ben aus LGBT­QI* ver­tre­ten, und noch vie­le Buch­sta­ben mehr. Eine gro­ße, bun­te, viel­fäl­ti­ge, indi­vi­du­el­le und doch soli­da­ri­sche Com­mu­ni­ty. Das ist es, was für mich den CSD aus­macht: Die Men­schen auf der Stra­ße zu sehen, mit ihnen zu demons­trie­ren, zu fei­ern und zu wis­sen, dass ich nicht allein bin. Nie­mand von uns ist das.

Die­ses Jahr gehe ich wie­der auf den CSD*. Ich gehe für mich, damit alte Wun­den hei­len kön­nen. Ich gehe aber auch für die, die wie ich frü­her nicht offen sagen kön­nen, wie sie lie­ben, begeh­ren und wel­che Iden­ti­tät sie haben. Ich lau­fe mit und bin sicht­bar, um zu zei­gen, dass sie nicht allein sind.
*[Anmer­kung: Der Text ent­stand zum CSD 2019 und dem 50. Jah­res­tag der Stonewall-Aufstände]

Wir sind, wie wir sind, und wir sind gut, so wie wir sind. Wir sind vie­le und wir gehen nicht weg. Und: Wir las­sen uns unser Recht auf Selbst­be­stim­mung von nie­man­dem ein­schrän­ken oder nehmen!


Der Bei­trag erschien zuerst bei HES­SEN IST GEIL, dem Prä­ven­ti­ons­pro­jekt der Aids­hil­fe Hessen.