30. November 2021

Von der Schuld

Von tomate
Lese­dau­er 2 Minu­ten

Schuld. Du bist schul­dig. Du schul­dest etwas. Im Namen des Vol­kes: der Ange­klag­te ist schul­dig. Eva ist schuld an der Ursünde.

Schuld hat bibli­sches Alter. Es gibt die eige­ne Schuld, das Fremd­ver­schul­den, die Kol­lek­tiv­schuld und bestimmt noch vie­le For­men mehr. Kurz gesagt ist Schuld die Ver­ur­sa­chung eines Übels. Sie zieht Ver­pflich­tun­gen nach sich, je nach Kon­text in Form mate­ri­el­ler Ent­schä­di­gung, ritu­el­ler Rei­ni­gung der Gemein­schaft oder ande­rer For­men der Wiedergutmachung. 

Schuld kommt auch immer wie­der im Kon­text von Sexua­li­tät vor, beson­ders wenn es um über­trag­ba­re sexu­el­le Infek­tio­nen und spe­zi­ell wenn es um HIV geht. Wie fast jeder HIV posi­ti­ve habe ich mir natür­lich auch die Fra­ge nach der Schuld gestellt. Womit habe ich mich schul­dig gemacht, das sich das ver­dient habe? Aber auch: bin ich selbst schuld? 

1983 wur­de das Virus ent­deckt, hieß erst GRID, Gay Rela­ted Immu­ne Defi­ci­en­cy, wur­de als „Schwu­len­seu­che“ bezeich­net und war die Stra­fe Got­tes dafür, dass Schwu­le exis­tie­ren. Damals fes­tig­te sich die Idee, dass Homo­se­xu­el­le ja selbst dar­an schuld sei­en, wenn sie an GRID erkran­ken, denn wenn sie ein­fach mal nicht mit ande­ren Män­nern schla­fen wür­den, wür­de das nicht pas­sie­ren. Die Schuld­fra­ge war also schnell geklärt: Der Schwu­le hat Schuld an der Seu­che, der Schwu­le ist die neue Ursün­de, das Volk hat gespro­chen: Er ist schul­dig. AIDS war und ist ein wei­te­rer Grund für die Hete­ro­mehr­heits­ge­sell­schaft, das Leben und den Sex von Homo­se­xu­el­len zu bewer­ten und den mora­li­schen Zei­ge­fin­ger zu heben und dar­auf hin­zu­wei­sen, wie ver­kom­men wir doch sind.

2015 bekam ich mei­ne Dia­gno­se und mir ging viel durch den Kopf: Ich bin selbst schuld. Was habe ich auch Sex ohne Kon­dom, über­haupt Sex mit Män­nern und eigent­lich wäre das alles nicht pas­siert wenn ich nicht schwul wäre. Ich erin­ne­re mich an die Bli­cke der­je­ni­gen, denen ich nach knapp einem Jahr erzähl­te, dass ich HIV posi­tiv bin. Eine Mischung aus Mit­leid und Ver­ach­tung. Mit­leid, weil ich „es“ habe und Ver­ach­tung, weil ich mich nicht an die Regeln gehal­ten habe, die doch all­ge­mein bekannt sind. 

Ich habe Jah­re gebraucht, um an den Punkt zu kom­men, die Schuld nicht mehr anzu­neh­men. Ich ver­wei­ge­re mich dem Pro­zess, erken­ne das Gericht nicht an und das Volk kann so viel spre­chen wie es will. Mei­ne Sexua­li­tät ist nicht sünd­haft oder mora­lisch falsch. Ich habe eine HIV-Infek­ti­on, weil der­je­ni­ge, der mich ange­steckt hat offen­sicht­lich nicht wuss­te, dass er HIV posi­tiv ist. Weil er nicht regel­mä­ßig beim Tes­ten war, denn selbst das ist mit Hür­den und Stig­ma ver­bun­den. Abseits der gro­ßen Städ­te ist es gar nicht so leicht, einen Test zu erhal­ten. Hoch­not­pein­li­che Befra­gun­gen bei Ärzt*innen oder im Gesund­heits­amt. Kos­ten, die man selbst tra­gen muss. Und die Angst vor dem Ergeb­nis, die man allei­ne aus­hal­ten muss, denn es gibt nur wenig Unterstützung. 

Wer ist also schuld? Ich? Der Sex­part­ner? Oder die­je­ni­gen, die sich anma­ßen, ihr Urteil über uns zu spre­chen? Die­je­ni­gen, die Tests mit Kos­ten ver­bun­den haben. Die­je­ni­gen, die Mit­lei­dig schau­en, wenn ein schwu­ler Mann einen STD-Test machen will, denn „der Arme hat sich nicht an die Regeln gehal­ten, die wir gemacht haben.“

Wer ist schuld? Ich weiß es nicht genau. Ich habe nur eine Ver­mu­tung und das wis­sen, dass weder ich noch der Sex­part­ner damals es sind.